Zeitzeug*innen im Interview
Dipl.-Päd. Renate Gehrke
Dipl.-Päd. Renate Gehrke begann Ihre Tätigkeit an der Hochschule im Jahr 1999 als Leiterin des Frauenbüros. Im Weiteren war sie bis 2015 Gleichstellungsbeauftragte der Ostfalia.
Ostfalia-Redaktion:
Frau Gehrke, Sie waren lange an unserer Hochschule tätig. Geben Sie uns bitte eine kurze
Beschreibung Ihrer Aufgaben.
Renate Gehrke:
Ich war von 1999 bis 2015 an der Ostfalia tätig, zuerst als Leiterin des
Frauenbüros, später als Gleichstellungsbeauftragte. Mein Aufgabenspektrum war im Niedersächsischen
Hochschulgesetz (NHG) klar definiert und bestand darin, die Hochschule zu unterstützen, mehr
Chancengleichheit von Frauen und Männern zu verwirklichen und die Ergebnisse der
Geschlechterforschung zu integrieren. Die Besonderheit dieser Tätigkeit ist eine
Weisungsunabhängigkeit und die Querschnittsfunktion, da die Aufgaben sich durch alle Bereiche der
Hochschule hindurch ziehen und sowohl strukturelle als auch inhaltliche Veränderungen bewirken
sollen. Dies erfordert ein sehr differenziertes Kompetenzprofil, Beharrlichkeit und eine hohe
Frustrationstoleranz, denn bekanntermaßen vollziehen sich wirklich wesentliche und messbare
Veränderungen in Organisationen nur sehr langsam.
Das Gleichstellungsbüro gehört zu den zentralen Einrichtungen der Hochschule und ist am Standort Wolfenbüttel angesiedelt. Es ist aber auch für alle anderen Standorte zuständig, so dass ich immer viel unterwegs war.
Ostfalia-Redaktion:
Wie hat sich die Hochschule aus Sicht der Gleichstellung zu Ihrer Zeit verändert?
Renate Gehrke:
Die Zeit der mühsamen Kämpfe um die neuen Gleichstellungsstrukturen, wie zum
Beispiel Rede- und Beteiligungsrechte in allen Gremien, war zum Glück schon vorbei. Dies hatten
meine Vorgängerinnen bereits durchgesetzt. Während meiner 16-jährigen Tätigkeit an der Ostfalia
wurde die Arbeit des Gleichstellungsbüros zunehmend geschätzt und gehörte ganz selbstverständlich
zu den alltäglichen Arbeitsabläufen der Hochschule.
Aus meiner Sicht gab es in dieser Zeit drei wichtige Veränderungen: Mit der Novellierung des Niedersächsischen Hochschulgesetztes (NHG) wurde 1994 das Modell der nebenamtlichen Frauenbeauftragten der Statusgruppen abgelöst und die Hauptamtlichkeit der Gleichstellungsbeauftragten als Wahlamt für vier Jahre mit öffentlicher Ausschreibung eingeführt. Damit wurde die Kontinuität und Professionalität der Gleichstellungsarbeit deutlich gestärkt. Ergänzend wurde die personelle Ausstattung verbessert, was zusätzliche Projekte und Schwerpunktsetzungen ermöglichte.
Durch das politische Konzept „Gender Mainstreaming“, das die Europäische Union 1999 einführte, wurde der Fokus von der reinen Frauenförderung mehr auf Strukturen und Rahmenbedingungen gelenkt, um die Geschlechterperspektive von vornherein in alle Planungs- und Entscheidungsprozesse zu integrieren. Diesem Ansatz folgend, gab es 2007 eine „Offensive für Chancengleichheit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern“ mit wichtigen Veröffentlichungen und detaillierten Empfehlungen aller großen Wissenschaftsorganisationen. Auf Landesebene entstanden daraufhin neue Arbeitsstrukturen zwischen dem Ministerium für Wissenschaft und Kultur, der Landeshochschulkonferenz und den Gleichstellungsbeauftragten, und die sogenannte Dialoginitiative „ Gleichstellung und Qualitätsmanagement an niedersächsischen Hochschulen“, die Veranstaltungen und Workshops zu diesen Themen durchführte. Diese Erkenntnisse flossen dann direkt in die strategische Entwicklungsplanung der Ostfalia ein und fanden ihren Niederschlag in diversen Konzepten und Zielvereinbarungen. Damit wurde das Thema Gleichstellung dort platziert, wo es auch hingehört – auf die obersten Leitungsebenen und in die strategische Ausrichtung der Hochschule.
Die dritte Veränderung ist die stärkere Betonung einer ausgewogenen Work-Life-Balance für alle Hochschulmitglieder, ein Thema, was früher zu wenig Beachtung erfuhr. Die Ostfalia durchlief einen mehrjährigen Auditierungsprozess als familiengerechte Hochschule bei der berufundfamilie gGmbH und wurde danach Mitglied im Best Practice Club „Familie in der Hochschule“. Es wurden selbstverpflichtende Zielvereinbarungen und konkrete Maßnahmen erarbeitet zu Themen wie Kinderbetreuung, familiengerechte Arbeits- und Studienstrukturen, Vereinbarkeit von Beruf und Pflege, Gesundheitsmanagement und andere.
Ostfalia-Redaktion:
Würden Sie im Nachhinein in Ihrer Tätigkeit etwas anders machen?
Renate Gehrke:
Nein, ich glaube nicht, Im Rückblick bin ich sehr zufrieden mit meinen Erfahrungen
und mit den Ergebnissen meiner Arbeit an der Ostfalia.
Ostfalia-Redaktion:
In Ihrer Tätigkeit haben Sie in verschiedenen Formaten versucht, den
wissenschaftlichen Nachwuchs insbesondere für den MINT-Bereich, also für Studiengänge der
Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, zu begeistern. Welche Angebote für
Schüler*innen sind Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben und warum?
Renate Gehrke:
Aus der Vielzahl von Projekten im MINT-Bereich sind mir zwei besonders in
Erinnerung geblieben: Das „Schnupperstudium für Schülerinnen“ ist Ende der 90er Jahre vom
Gleichstellungsbüro aus entwickelt worden und verlief mit teilweise über 100 Teilnehmerinnen recht
erfolgreich. Der Schwerpunkt dieser einen Woche während der Herbstferien lag in der Erkundung der
Hochschule. Als „Studentin auf Probe“ konnten die Oberstufen-Schülerinnen ganz konkrete Erfahrungen
in einer technischen Fakultät ihrer Wahl machen, Vorlesungen und Gesprächsrunden mit
Wissenschaftlerinnen besuchen und kleine Experimente durchführen. Begleitet wurden sie von einer
Studentin der jeweiligen Fakultät, die als Patin fungierte und für alle Fragen zur Verfügung stand.
Dieses Schnuppern in der Hochschule hat den Schülerinnen einen sehr realistischen und konkreten
Einblick in das spätere Studium ermöglicht und war insofern eine hilfreiche Orientierung bei der
Studienwahlentscheidung. Diese Veranstaltung war über viele Jahre hinweg mein Lieblingsprojekt.
Beim zweiten Projekt denke ich an das Niedersachsen-Technikum. Es ist 2010 auf Landesebene entwickelt worden. Hier liegt der Schwerpunkt in einem bezahlten betrieblichen Praktikum über sechs Monate. Die (Fach-)Abiturientinnen lernen in einem der Kooperationsbetriebe das konkrete Arbeitsleben in einem MINT-Beruf kennen, bekommen eine besondere Aufgabe und werden von einer Betreuungsperson angeleitet. Ein wöchentlicher Hochschultag präsentiert die technischen Fakultäten und bietet Raum für Austausch und Gesprächsrunden. Obwohl das Konzept interessant ist, konnte sich dieses Projekt an der Ostfalia leider nicht richtig durchsetzen – der eine Tag in der Hochschule war vielleicht zu kurz und unser Einfluss dadurch zu gering, um die jungen Frauen wirklich zu motivieren und zu binden.
Ostfalia-Redaktion:
Was haben Sie aus Ihrer beruflichen Tätigkeit an der Hochschule mitgenommen?
Renate Gehrke:
Wenn ich Veränderungen anstoßen und etwas bewegen möchte, brauche ich einen bunten
Strauß verschiedenster Fähigkeiten und die Akzeptanz und Unterstützung der Leitungsebene. Aus
meiner Erfahrung sind dies, neben einer hohen Fachkompetenz, vor allem Belastbarkeit, Verständnis
für mein Gegenüber und die Gegenargumente, Humor, Durchsetzungskraft, Gelassenheit, die
Bereitschaft zu Kooperation und zum Dialog, Geduld, Selbstreflektion, stärkende Netzwerke und
Verbündete und eine insgesamt gute Kommunikation.
Ostfalia-Redaktion:
Sie waren bereits vor Ihrer Zeit an der Hochschule im Bereich der Gleichstellung
tätig. Was hat die Gleichstellungsarbeit an der Hochschule im Vergleich zu vorherigen
Tätigkeiten/Stellen ausgemacht?
Renate Gehrke:
Mit meiner Arbeit an einer Frauenberatungsstelle begann mein beruflicher Weg der
Parteinahme und Unterstützung von Frauen. Hier wurden die individuellen Biografien bearbeitet, um
Krisenpunkte aufzulösen und neue Perspektiven im privaten und beruflichen Bereich zu entwickeln.
Aber die Veränderungen blieben auf der persönlichen Ebene, stärkten die einzelnen Frauen auf ihrem
Weg, reichten aber nicht bis in die gesellschaftlichen Strukturen hinein.
Direkt vor meiner Tätigkeit an der Ostfalia war ich kommunale Gleichstellungsbeauftragte in einer kleinen ländlichen Gemeinde, deren Struktur und Denkweise eher traditionell geprägt war. Hier fühlte ich mich als Einzelkämpferin, als exotische Randfigur, die man nun, aufgrund neuer gesetzlicher Regelungen, mitberücksichtigen musste, aber nicht richtig einordnen konnte. Es war eine recht mühsame Sisyphusarbeit mit wenig Erfolgserlebnissen.
Der Wechsel zur Hochschule war ein Quantensprung auf vielen Ebenen: Ich erlebte ein offenes Klima der akademischen Auseinandersetzung und ein grundlegendes Interesse an wissenschaftlichen Studien zum Thema Gleichstellung. Ich war Teil einer lebendigen Community, deren Organisationseinheiten gerne zusammengearbeitet haben, gemeinsame Ziele verfolgten und die Hochschule voranbringen wollten. Dieser frische Wind hat mir sehr gut getan und hat meine Motivation enorm gestärkt.
Außerdem empfand ich es als sehr verantwortungsvolle Aufgabe, den Studierenden erste Einblicke in das Thema Geschlechtergerechtigkeit und ein entsprechendes Problembewusstsein zu vermitteln. Als Führungskräfte von morgen sollten sie hier zumindest einige Grundbegriffe und Analysemethoden im Repertoire haben.
Ostfalia-Redaktion:
Bei Ihrem Abschied in den Ruhestand sagten Sie: „Es hat sich zwar viel getan, aber es liegen
noch genügend Aufgaben vor uns“. Welche Herausforderung bestehen aus Ihrer Sicht früher wie
heute?
Renate Gehrke:
Von einer gleichberechtigten und selbstverständlichen Repräsentanz von Frauen im
öffentlichen Raum, in wichtigen Entscheidungs- und Leitungsfunktionen von Politik, Wirtschaft und
Wissenschaft sind wir leider immer noch weit entfernt. Dies zeigt ein kurzer Blick auf die
Zahlenverhältnisse. Auch der Anteil der Professorinnen an deutschen Hochschulen gibt im
internationalen Vergleich ein eher trauriges Bild ab und bewegt sich trotz aller Anstrengungen nur
im Schneckentempo aufwärts.
Weiter müsste sich die Bewertung und Aufteilung von Care- und Erwerbsarbeit zwischen Frauen und Männern in unserer Gesellschaft grundlegend ändern, um mehr Geschlechtergerechtigkeit zu erreichen: Wer geht in Elternzeit, wer arbeitet in Teilzeit oder ist in der Pflege von älteren Familienangehörigen tätig? Und welche Konsequenzen hat das in Bezug auf die berufliche Karriere und die spätere Rente?
In den Hochschulen geht es darüber hinaus aber auch noch um die sogenannte „innere Geschäftsordnung der Wissenschaft“, also die eher unsichtbaren Regelwerke, die Frauen weiterhin an die gläserne Decke stoßen lassen. Dies sind aus meiner Sicht zum Beispiel die männlich geprägten Fachkulturen und Netzwerke, die Art der Leistungsbeurteilung, die oft zu einem Gender Pay Gap führt oder die mangelnde Familienorientierung mancher Führungskräfte. Ich würde mir wünschen, dass eine ausgewiesene Genderkompetenz, bestenfalls in einem Training erworben, Teil des Anforderungsprofils von Führungskräften wird. Genderaspekte würden dann selbstverständlicher in die Lehre und in Forschungsprojekte integriert und damit die Vielfalt und Unterschiedlichkeit unserer Realität angemessen abgebildet werden.
Ostfalia-Redaktion:
Was möchten Sie der Hochschule zum 50-jährigen Bestehen gerne noch sagen?
Renate Gehrke:
Ich habe zwei Bemerkungen:
Herzlichen Glückwunsch zum 50-jährigen Jubiläum und zu dieser großen Erfolgsgeschichte! Die Ostfalia hat sich in diesen Jahren unglaublich gewandelt, hat die richtigen Antworten auf gesellschaftliche Veränderungen und Bedarfe gefunden und hat sich zu einer der größten und beliebtesten Hochschulen in Niedersachsen entwickelt. Da kann ich nur sagen: Weiter so und alles Gute für die Zukunft!
Die zweite Bemerkung ist ein großer Dank an die Ostfalia. Ich bin in den 16 Jahren meiner Tätigkeit wirklich sehr gerne ins Gleichstellungsbüro gekommen, habe kollegiale Verbundenheit und Wertschätzung erfahren und wurde vor allem vom Präsidium immer unterstützt. Dadurch konnte ich meine Aufgaben mit Freude und Engagement erledigen, konnte gemeinsame Ziele und Fortschritte erreichen und blicke auch heute noch voller Zufriedenheit auf diese besondere Zeit zurück – das ist für mich eine sehr wertvolle Erfahrung und ein schönes Gefühl.