Gesundheitswesen, Soziale Arbeit, Informatik und Elektrotechnik – in der Teilhabe- und
Versorgungsforschung arbeiten diese vier Ostfalia-Fakultäten Hand in Hand. Warum lösen sich hier
die Grenzen der Fächer auf?
Martina Hasseler: Weil wir nur so auf neue Ideen kommen können. Wir
arbeiten an technischen und sozialen Lösungen, um die Versorgung im Gesundheitswesen und die
Teilhabemöglichkeiten von – wie wir in der Wissenschaft sagen – vulnerablen Menschen zu verbessern.
Und das gelingt uns nur, indem wir uns mit Forschern umgeben, die anders denken als wir selbst.
Ina Schiering: Wir sind Teil eines Generationswechsels. Die Hochschule
erfüllt heute eine andere Rolle als noch vor ein paar Jahren. Viele gesellschaftliche Probleme
können wir nur dann in den Griff bekommen, wenn wir keine Scheuklappen tragen und interdisziplinär
arbeiten.
Viele Techniker wie Ingenieure, Informatiker und Elektrotechniker arbeiten unter Ihrem
Forschungsdach. Was sind die Gründe dafür?
Ina Schiering: Die fortschreitende Digitalisierung und der Siegeszug
des Smartphones. Die technischen Anwendungen bieten uns in der Teilhabe- und Versorgungsforschung
viel Potenzial. Ein einfaches Beispiel: Mit der Smartwatch können wir Menschen mit Störungen der
Exekutivfunktionen, also ihrer Handlungsplanung, helfen, die alltäglichen Ziele nicht aus den Augen
zu verlieren. Indem die Uhr ihnen das Signal gibt, ihren Einkauf zu erledigen oder den nächsten Bus
zu erreichen.
Was verbindet Sie drei und Ihre Forscherkolleginnen und -kollegen miteinander?
Sandra Verena Müller: Das gemeinsame Ziel. Wir wollen mehr Menschen
die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglichen: dass sie ihren Alltag selbstständig
organisieren, einem Beruf nachgehen können oder am kulturellen Leben teilnehmen können. Unsere
Zielgruppen sind sehr unterschiedlich, beispielsweise Schlaganfall-, Tumor- und
Schädel-Hirn-Trauma-Patienten und Menschen mit geistiger Behinderung.
Was ist eines Ihrer Projekte?
Sandra Verena Müller: Wir haben erstmalig in Deutschland ein Verfahren
zur Demenzfrüherkennung und Verlaufsdiagnostik für Menschen mit geistiger Behinderung entwickelt.
Die Kenntnis einer Demenz oder des Verdachts ermöglicht sowohl den Erkrankten als auch ihren
Angehörigen und den Mitarbeitern der Einrichtungen, in denen sie leben, sich auf die Situation
einzustellen und ihnen somit eine angemessene Behandlung zukommen zu lassen.
Sie forschen mit Menschen für Menschen. Was bedeutet das für Ihre Arbeit?
Ina Schiering: Als Informatikerin sind IT-Sicherheit und Datenschutz
mein Fachgebiet. In Deutschland gilt das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Das
heißt, Menschen entscheiden selbst darüber, was mit ihren persönlichen Daten passiert. Weil wir mit
sensiblen Informationen arbeiten, die nicht nach außen dringen dürfen, ist es meine Aufgabe, die
Rechte der Menschen zu stärken – zum Beispiel, indem wir datensparsam arbeiten und Daten möglichst
anonymisieren oder pseudonymisieren.
Sandra Verena Müller: Die Senatskommission für Forschungsethik, deren
Vorsitzende ich bin, begutachtet jeden Forschungsantrag, ob er den ethischen Kriterien entspricht:
Ob die Teilnehmer der Studie richtig über ihre Rechte aufgeklärt werden, welche Daten erhoben und
wie sie weiterverarbeitet werden. Wenn der Antragsteller die Kriterien nicht erfüllt, stellen wir
Nachforderungen.
Martina Hasseler: Wir arbeiten mit Menschen zusammen, die aufgrund
ihrer körperlichen und seelischen Konstitution besonders verletzlich sind. Umso wichtiger ist es,
dass wir das Forschungsdesign wohlüberlegt planen.
Warum ist Ihre Forschung gerade jetzt besonders wichtig?
Martina Hasseler: Immer mehr Menschen im Bereich der gesundheitlichen
und pflegerischen Versorgung erfahren Qualitätsdefizite. Stichwort: Fachkräftemangel. Dass die
Unterversorgung in der Langzeitpflege nicht nur eine Vorstellung, sondern Wirklichkeit ist, lässt
sich nur durch unsere Studien feststellen. Wir betreiben angewandte Forschung und wollen mit
unseren Projekten beitragen, dass die Gesundheitsversorgung besser wird.
Verändert Ihre Forschung die Gesellschaft?
Martina Hasseler: Wir nehmen die Trends der Gesellschaft auf. Um die
Gesellschaft dann, im Idealfall, zu verändern.
Sandra Verena Müller: Wir antizipieren Veränderungen und reagieren
darauf. Vom demografischen Wandel bis zur Migration kommen viele Herausforderungen auf uns zu. Wir
beschäftigen uns jetzt schon damit, wie wir in zwanzig Jahren leben wollen.
Warum ist die Ostfalia ein guter Ort, um zu forschen?
Sandra Verena Müller: Weil die Ostfalia sehr forschungsfreudig
ist...
Martina Hasseler: …und mich meine Hochschule mit Kolleginnen und
Kollegen anderer Fakultäten zusammenbringt.
Ina Schiering: Interdisziplinarität ist unser Erfolgsfaktor.
Zu guter Letzt: Wie erklären Sie mit einem Satz, warum Ihnen Ihre Arbeit Spaß macht?
Sandra Verena Müller: Weil ich mich jeden Tag mit wichtigen
gesellschaftlichen Themen befasse und Erkenntnisse gewinne, die den Menschen nutzen.
Ina Schiering: Weil ich den Menschen helfen kann, ihr Recht auf
informationelle Selbstbestimmung wahrzunehmen – und weil ich im Umfeld Hochschule mit vielen jungen
und interessanten Leuten zu tun habe.
Martina Hasseler: Das Wissen in meinem Fachgebiet erweitern und
gleichzeitig die Gesundheitsversorgung verbessern – das ist meine Motivation.